logbuch 2022

miesbach, 28.dezember 2022

 

quadrat

ich hatte immer ein ausgeprägtes vorurteil gegenüber quadrat. bei zahlen, flächen, auch bei bildern: das schien mir immer zu gleichmäßig, zu austariert, zu „rund“. als fotografisches format kam es für mich nie in frage, da keine meiner kameras jemals anderes als querformat zu verfügung hatte.

ich habe es in photoshop einige male probiert. zum beispiel, wenn mit den fotos etwas nicht „stimmte“, das sujet zwar gut getroffen oder erfasst war, das foto aber trotzdem nicht funktionierte. abhilfe also beim schnitt, aufhebung des querformats. es ging, die resultate waren besser als die ursprünglichen bilder in 3:2, aber ich hatte immer ein ungutes gefühl, so als hätte ich den bildern gewalt angetan, sie kamen mir irgendwie, wenn auch besser als ursprünglich, defizient vor.

seit langem frage ich mich, v.a. wenn ich fotografINNen sehe, die ausschließlich in quadrat fotografieren, was eigentlich den charme, die vorzüge oder vielleicht sogar die notwendigkeit von quadratischem format ausmacht.

ein großer vorteil, der mir sofort in den sinn kommt, wenn ich quadratische fotos sehe, ist die „künstlichkeit“, oder anders: die un-natürlichkeit; ein umstand, der es für abstrakte sujets prädestiniert. den grund dafür hat mir ein fotofreund, martin lüpkes, selbst radikaler anhänger von quadrat, auf meine anfrage geliefert: es widerstrebt einfach unseren breitwand-sehgewohnheiten. quadratisches sehen kommt in unserem blickfeld nicht vor, egal, welche perspektive wir einnehmen. das leuchtet ein. sehr sogar. ich stelle mir vor: einen kahlen ast mit zweigen- das kann unter umständen ein ganz passables bild geben. in normalem format. in quadratischem format sieht es schon ganz anders aus, der raum hat sich verändert und mit ihm die dimensionen, der ast, der zuvor abbild eines natürlichen asts war, hat jetzt ein ganz eigenes leben gewonnen, hat sich von seinem realen vor-bild emanzipiert, ist jetzt v.a. struktur und linie geworden. wenn die fotografie an sich schon ein akt der verfremdung ist (weil sie auswählt, isoliert, eine bestimmte perspektive einnimmt), wäre demnach quadratisches format eine zusätzliche, radikalere verfremdung, also ein mehr an künstlichkeit, also eine ästhetische entscheidung.

ein weiterer vorteil von quadrat: das identische seitenverhältnis. vielleicht hat das ebenfalls eine a priori ästhetische funktion wie der reim: gleichklang. der quadratische raum kennt kein oben und unten, links oder rechts, die dinge, objekte, formen „schweben“ gleichsam in einem schwerelosen raum. er suggeriert also einen zentralen kaum, in dem die dinge, egal, wo sie sich befinden, immer gleich und gut aufgehoben sind. egalité.

dieser gedanke hat, finde ich, etwas sehr sympathisches, kreatives, fast humanes:  er öffnet den spiel-raum der fotografie für ungeahnte möglichkeiten.

allerdings hat diese freiheit auch einen haken, den man vielleicht den passe-partout-effekt nennen könnte. nimm ein passe-partout und lege es um ein beliebiges objekt: schon sieht es künstlich und irgendwie nach kunstwerk aus. wahrscheinlich ist es dieser verdacht, den ein anderer fotofreund, twin, ein entschiedener freund des querformats, hegt. twin glaubt, quadrat „wirkt geordnet und macht sich gut bei portfolios. aber ich bezweifle, dass das format quadrat den sujets gerecht wird, da es den hang zum selbstzweck hat“.

ich glaube, twin hat recht. Ich weiß nicht, ob es dieser verdacht oder eher dünkel ist, der mich vom quadrat abhält, obwohl ich ein großer freund der abstraktion und auch der reduktion bin. trotz allem- aber womöglich ist es die trägheit der gewohnheit oder auch das fehlende technische feature in der kamera- fühle ich mich wohler, bevorzuge ich nach wie vor querformat.

 

 

 



rosenheim, 25.dezember 2022

weihnachten, frühlingswetter, frühlingskonne, warmes licht. "lass uns nach rosenheim fahren", schlage ich ch. vor. Kleines shooting, weil wetter und licht so schön sind. Und weil ich im november schon mal in rosenheim war, damals shooting mit angelika, wetter äußerst suboptimal, nebel die ganze zeit, aber wir haben trotzdem tolle fotos gemacht, die wir nachher beim café im dinzler begutachtet und kommentiert hatten. leider habe ich damals meine speicherkarte wohl auf dem tisch liegengelassen, jemand hat sie mitgenommen und die früchte meines shootings waren futsch. darunter auch eine serie von bildern in einem hinterhof, den wir "zufällig" entdeckt hatten: regale mit stahlrohren einer stahlbaufirma, rund, eckig, l-förmig, mit farbigen markierungen an den enden, das alles sah mit bloßem auge schon aus wie ein großes gemäde von paul klee.

jetzt an diesem frühlingshaften weihnachtstag möchte ich vielleicht einige motive von damals wiederfinden. und es funktioniert schon am anfang: ich finde die gesplitterte glasscheibe an einem treppenaufgang wieder: wunderbar farbig-abstrakter hintergrund vor dem zersprungenen und fein ziselierten glas. was ich jetzt aber sehe und entdecke, ist die fassade des nachbargebäudes, die vor dieser folie klasse aussieht. wir gehen weiter, ich würde gern den hinterhof der stahlbaufirma wiederfinden, aber ich habe nicht die geringste ahnung, wo das war.

wir schlendern durch eine kleine straße, die an ein wohngebiet mit hochhäusern grenzt. schön anzusehen die farbigen balkone, zum teil liebevoll ausstaffiert, schön in diesem licht, aber fotografisch gibt das nichts her. dann fällt mein blick auf eines der parkenden autos, genauer auf das seitenfenster und wie sich in ihm der wohnblock spiegelt. großartig verzerrt durch die krümmung der scheibe und zudem durch versatzstücke der autos; spiegel, den durchblick des cockpits. voilà die perfekte ansicht/inszenierung der balkonfassaden. ich gehe von wagen zu wagen: immer wieder neue und ungewöhnliche ansichten der wohnblocks. welche entdeckung!, die, wie so oft, auf den ab- und nebenwegen kommt.

wir gehen weiter. ich erkenne einige läden, wo wir im november fotografiert hatten, wieder. dann, eine typische bahnhofsstraße, glasscherbenviertel, wie ch. sagt. läden mit nippes, asia-food, balkan-imbiss, vietnamese, grieche, es riecht nach kebab und zatziki. pfichtgemäß werfe ich einen blick in die hinterhöfe, aber nichts von belang. das macht nichts.

aber dann doch: ich sehe von weitem die regale mit den stahlrohren! wir finden den eingang in einer querstraße, das licht ist großartig, der hof menschenleer, allerdings: die regale sind abgeriegelt mit einem breiten bauzaun. der zaun grenzt an ein anderes mit einem vorhang abgeschirmtes hochregal mit gitterrosten, hölzern, baumaterial. dahinter genug platz, um sich zu den stahlrohren durchzuschleichen. ein weihnachtsgeschenk: le temps retrouvé. die wiedergefundene location.  shooting vom feinsten: die bilder fallen einem zu wie reife äpfel.

dann kommt ein paar, viellicht wollen sie zu einer der garagen. der mann sagt: hat der zaun wohl nichts geholfen. ich sage nein, gibt´s nen  geheimzugang. forografiere weiter. bis mir ein verdacht kommt: sind sie der besitzer? ja, ist er. er fragt, was fotografieren sie da eigentlich. ich sage kunstfotos. kann er nichts damit anfangen. ich strecke ihm die kamera hin: da sehen sie, wunderbare formen... naja sagt er wenig überzeugt, für uns sieht das anders aus. ich entschuldige mich für mein eindringen, frage, ob ich weiter fotografieren könne. ja.

schön, neben den bildern, solche funde!!! geschenke wie an weihnachten.

 



augsburg, 1.november 2022

"endstation"- vielleicht eine neue serie. seit tagen spukt mir der titel im kopf. die bildidee hatte ich schon länger. im sommer. damals womöglich als gegenpol zu "neuland", das nicht weiter ging.

jetzt also "endstation".  erste annäherung gestern mittag: sichtung und paar fotos am terminal der linie 3 in königsbrunn. es ist schnell klar, dass man den spirit, die atmosphäre entweder sehr spät oder sehr früh, am übergang der nacht zur dämmerung machen muss.

heute also frühschicht. bin um 6.00 uhr da, es ist noch stockdunkel, eigentlich zu dunkel. die überdachung der bahnsteige ist beleuchtet, dann gibt es diese raumschifffotos wie im sommer am königsplatz. das ist allerdings nicht das, was ich will. eine halbe stunde später dämmert es, zudem ein sehr dramatischer himmel, die wolkendecke bricht genau über mir. im osten morgenröte!!!

jetzt zeigt sich genau diese atmosphäre, die ich mir vorgestellt hatte: ein ort, an dem das ende (des weges, der wünsche, des tages/der nacht) sichtbar, spürbar, greifbar ist.

ich mag symbolisch starke orte,  sie sind wie metaphern.

 



miesbach, 27.oktober 2022

wieder in den steinbrüchen in solnhofen.

vielleicht ist es glück, vielleicht zufall, jedenfalls wieder großes naturtschauspiel: der himmel ist stark bewölkt, aber dann reißt die wolkendecke immer wieder für kurze augenblicke auf und das weiche herbstlicht fällt wie in spots in einige ecken der brüche und bringt die matten grau- und beigetöne der steinplatten zum leuchten.

was es zu sehen und zu staunen gibt: die steinplatten selbst in ihrer ganzen formvielfalt, darauf ablagerungen, einschlüsse, abdrücke von planzen, wunderbare zeichnungen vom großen künstler natur, die an die 150 millionen jahre alt sind. ein blick in die urgeschichte der welt. ich erfahre auch, dass es der härteste naturkalkstein der welt ist und im 18.jahrhundert als litho bezeichnet und für den druck verwendet wurde.

man könnte stunden auf den platten verbringen allein mit form- und zeichenstudien. oder in den abraumhalden blättern in dem großen bilderbuch..

daneben gibt es feine tableaus der vergänglichkeit, lost places oder natures mortes. dabei sind die steinbrüche alles andere als "lost", weiter hinten sind maschinen am werk, die den abraum zur seite schieben, ein großer tieflader holt die in holzkisten gestapelten platten ab, von einigen stellen hört man klopfen. der steinbruch ist ziemlich aktiv und doch liegt über allem ein schleier von vergehen und verwesung. nicht nur in einigen seit jahren oder jahrzehnten aufgegebenen hütten, wohnwägen oder unterständen.



miesbach, 01.0ktober 2022

ein blitzlicht:

der häuptling im kreml lädt die bewohner in den besetzten gebieten der ukraine zum referendum ein; die einladung überbringen nette männer mit kalaschnikows...mit überwältigender mehrheit... annektion- welch ein schmutziges wort...

corona in bayern (aber nicht nur dort) nimmt wieder rapide zu; grund: nicht nur die wiesn, die heuer stattfinden MUSSTE, neinnein, es gibt auch viele andere großveranstaltunfgen, konzerte, volksfeste, fussballspiele...

die letzten gletscher in d machen auch schlapp; den schneeferner gibt es nicht mehr...

mehr als 10% inflation, das hat es schon lange nicht mehr gegeben (seit 1950)...

die energiekrise...

die medienkrise...

es tut mir leid.

es geht mir persönlich gut. ich bin fit, lebe etwas sparsamer aber komfortabel, trinke weiter guten wein, die heizung funktioniert (etwas sparsamer aber komfortabel), ich amüsiere mich, ich mache weiter fotos.

ein fotofreund schrieb mir neulich, der krieg, die pandemie... er habe keine rechte lust mehr zum fotografieren.

das ist sehr schade. aber verständlich. und ich habe ein zunehmend schlechtes gewissen, wenn ich weiter fotografiere: spielerisch, ästhetisch, manchmal ein bisschen engagiert- aber immer um die form bemüht...

der gute b.b.: was sind das für zeiten, wo ein gespräch über bäume ein verbrechen ist.

und ich frage mich mindestens einmal in der woche: sollte man alle (nicht politische, nicht engagierte) kunstproduktion einstellen, weil krieg (in afghanistan?, syrien?, jemen?, afrika?, ukraine?...) ist oder eine neue pandemie wütet oder das klima kippt???

oder sollte man das foto/bild/kunstwerk zur waffe machen gegen den krieg, die pest oder die umweltzerstörung? die axt in den kopf für eine bessere welt?

mangels plausibler antworten mache ich weiter wie bisher, buisiness as usual.

oder ist es kindlicher trotz, eine art totstellreflex, gerade in kritischen zeiten ins insignifikante, spielerische, in den elfenbeinturm zu flüchten?

...

 

 



miesbach, 16.sept. 2022

form, farbe, spiel.

mein guter bilder-freund twin kommentierte vor kurzem eines meiner fotos aus der united colour- reihe in der fotocommunity sehr nett und wie so oft sehr treffend, wie "farbe und form verspielt miteinander kommunizieren".

es freut mich immer, wenn jemand in einem bild etwas von dem sieht, was ich gesehen habe, was mich bewegt oder inspiriert hat. in diesem fall aber war die freude umso größer, als das foto eigentlich kein foto mehr ist, sondern ein mit photoshop erstelltes spiel aus farbflächen und formen. und weil twin eigentlich kein großer freund von allzu starker bildbearbeitung oder gar manipulation des fotos ist.

vielen dank also werter freund in cologne!!!

ich gestehe, ich spiele gern. sehr gern auch mit photoshop. und ich gestehe auch, ich bin mir am ende oft nicht sicher, was ich von dem ergebnis meiner farb-spielereien halten soll.

es war schön mit den farben zu "malen", die formen auszuprobieren, es ist schön zu sehen, was man aus einem passablen, aber eigentlich belanglosen foto machen kann, es gefällt mir zu zitieren, am ende freue ich mich über dieses bunte farbenspiel, die abstraktion, und ja: auch über die farbige leichtigkeit, die diese bilder vermitteln.

aber ich habe bedenken: ist das haltbar, sind das ernst zu nehmende arbeiten???

im ernst!

warum eigentlich?

wegen des spielerischen? des kindlichen? des leichten und insignifikanten?

vielleicht sollte ich wieder huizinga lesen, oder noch besser: schiller, über die ästhetische erziehung des menschen. dass der mensch nur da ganz mensch ist, wo er spielt. wie schön. in dem freien und zwecklosen spiel. in dem ausloten von möglichkeiten, improvisieren von farbtönungen, harmonien und kontrasten, von dem zusammenSPIEL von form und farbe. und auch das: von der lust am verfremden des realen, materiellen durch die farbe. zu sehen, wie die komposition mit der farbigkeit immer mehr ein eigenleben gewinnt und sich ganz von der fotografischen vorlage entfernt.

wie schön diese ausflüge in die abstraktion!!!

und auch in diesem punkt bin ich twin dankbar für seinen kommentar, wenn er in dem bild sehen will, wie ihn ein halbes gesicht anschaut, das dann aber zwischendurch wieder verschwindet, "um dem formenspiel platz zu machen". das trifft meines erachtens genau diesen prozess der loslösung von dem materiellen oder gegenständlichen durch das spiel und die verfremdung mit der farbe.

 



völklingen, 6.august 2022

extra-tour ins saarland mit mcm. anlass ist die urban art biennale in völklingen, die uns allerdings weniger interessiert. sehr dagegen das stahlwerk, die völklinger hütte, weltkulturerbe.

erinnerungen an saarbrücken, meine jahre im grenzland. die zeit, als es mit der stahlinduistrie im saarland bereits bergab ging. ich habe diese riesigen stahlungeheuer schon damals gesehen, aber immer nur aus der ferne.

jetzt also wiedersehen und intensive begegnung.

der erste eindruck: eine zeitreise zurück in zola´s zeiten. germinal, der bauch von paris, die bestie im menschen. das stahlwerk als inkorporation des industriezeitalters- wie die eisenbahn, wie die bahnhöfe, wie gustave eiffels stahlbrücken.

wie hatten uns vorgenommen, uns nicht vom pittoresken verleiten zu lassen. was schwerfällt angesichts der gigantischen ausmaße, der erdrückenden vielfalt der formen von rohren, hochöfen und stahlträgern und den farbenspielen von rost und licht. die faszination eines monströsen lost place.

ich flüchte ins detail: formenelemente, rostfarben, strukturbilder. aber das kann man fast genauso gut anderswo. also doch sich der herausforderung stellen -stahl in all seinen formen- und einen fotografischen ausdruck finden für das formengewirr, der weder im beliebigen landet noch im geschmäcklerischen. schwer genug,- auf einigen bildern gelingt es.

was man nicht im bild festhalten kann:  diesen eindringlichen geruchscocktail von stahl, rost und moder. und die kurzen momente, in denen die vorstellung eines arbeiterlebens in diesem moster  lebendig wird. (es sind einige arbeiten der urban art, die wunderbar installiert sind in den kellerräumen der erzhalle, die sich mit der geschichte und dem leben der hüttenarbeiter auseinandersetzen- vor allem eine installation von christian boltanski, die die erinnerung an arbeitsleben in diesen hallen wach rufen.) ich stelle mir vor: den ungeheuren dreck, staub beim befüllen der loren, der wind, der durch die hallten pfeift, die kälte draußen, die hitze an den öfen, der unvorstellbare lärm, dazu die harte körperliche arbeit- wir können uns das in unseren klimatisierten büros an unseren laptops und in den menschenleeren produktionshallen nicht mehr vorstellen. außer vielleicht an solchen orten...

 

 



miesbach, 25.juli 2022

soll die kunst, also auch die fotografie, politisch sein?

eine fotofreundin, die meinen logbucheintrag zum dilemma des tagebuchschreibers gelesen hat (wie viel realität soll in das tagebuch einfließen? meine entscheidung, im logbuch vor allem über bilder und ästhetische probleme mit bildern nachzudenken), vermutet, ich will mich in den elfenbeinturm zurückziehen und will mich ermuntern:

„Taste Dich vor und habe keine Angst vor dem Politischen. Ich glaube es ist genau jetzt die Zeit, öffentlich in Diskurs zu treten (auch fotografisch)“

oh, vielen dank! Ich bin ihr wirklich sehr dankbar für diese moralische unterstützung. aber ich fürchte, sie hat mich etwas miss- oder gar falsch verstanden.

 

soll die fotografie also politisch sein?

und- soll ich politische fotos machen?

 

aber unbedingt! möchte ich ihr zurufen. das habe ich doch immer poetisch und fotografisch vertreten, praktiziert und propagiert. hat sie unsere kooperation in der friends´ bay vergessen?, ihr wunderbares bild „blutgetränkte erde“  und meine finistère- gedichte dazu?( https://www.w-marin.de/friends-bay/die-bucht-iii/)  

oder blauweissrot, mein début 2004 in der fotowelt? (https://www.w-marin.de/fotografie/museum/blauweissrot/meine fotografische stellungnahme zu liberté, égalité und fraternité in zeiten des iran-krieges und g.w.bushs ausfälle gegen old europe. dazu die aktion mit den mappen der ausstellung ins weiße haus und in den kreml. das war doch, finde ich, eminent politisch.

aber muss fotografie immer ein explizites politisches statement, sujet oder einen appell beinhalten, um politisch zu sein?

ich glaube nicht, nein, auf keinen fall.

oder muss jede künstlerische arbeit, um ästhetisch gültig zu sein, auch politisch sein? ich hoffe nicht.

rothko vs beuys?

die wunderbaren fotos des natur- und tierfotografen vincent munier gegen die von sebastiao salgado?

wäre salgado „politischer“, weil er das nackte elend der entrechteten und ausgebeuteten auf seinen fotos „zeigt“. Aber „zeigt“ er es wirklich wie ein reporter? Oder stellt er es nicht etwa in seiner ganz eigenen form, seinem pathos dar?  Und wären die bilder muniers weniger gültig, weil er einsam eisbären oder schneehunde in ihrer ganzen schönheit und zerbrechlichkeit darstellt?

 

aber ich gestehe: ich habe nicht immer oder oft nicht die kraft und den mut für die große ästhetische oder politische geste, für das große bild.  dann fotografiere ich schöne und harmlose wandbilder oder graffitys.

aber selbst, wenn ich wieder einmal einen "größeren wurf", eine größere fotografische arbeit im sinn habe, höre ich jemanden rufen:

nun mach mal halblang. die realität verändern? mit euren bescheidenen bilderchen, die ihr auf eueren home pages oder in fotocommunities zeigt???

ja.

aber manchmal denke ich auch an den weisen satz eines französischen dichters, dessen namen ich vergessen habe: il ne s´agit pas de changer la vie, mais notre vision de la vie (es geht nicht darum, das leben zu verändern, sondern unsere an-schauung vom leben).



augsburg 18.juni 2022,

nochmal nachtschicht. diesmal augsburg und diesmal richtig zu nachtschlafender zeit. wieder mit mcm.

gut eine stunde um den königsplatz, bevor es dann anfängt zu dämmern. tolles shooting mit dem blauen schiff, das wie ein illuminiertes u-boot in die nacht ragt. toller silent place auch. als die ersten trams fahren, kommt ein weißer streifen am dach dazu.

der poetische untertext: die blaue stunde, le bateau ivre:

 

Dix nuits, sans regretter l'oeil niais des falots !

 

Plus douce qu'aux enfants la chair des pommes sures,
L'eau verte pénétra ma coque de sapin

Et des taches de vins bleus et des vomissures

Me lava, dispersant gouvernail et grappin...


(zehn nächte! ich hab das blöde licht nicht vermißt.

 

 süß-grünes apfelfleisch für kinder, süßer

 drang grüner schwall in meinen kieferleib,

 blauweinbekotzt, geläutert auch von dieser

 flut, die anker und steuer- ein zeitvertreib)

[übersetzung: dieter koller]

 

bei tageslicht noch durch die altstadt flaniert. kurzes tête à

mit dem elias-holl-rathaus, der elias-holl-satdtmetzg, den wenigen renaissance-fassaden in der altstadt. bevor die ersten akteure dieser frühen morgenstunden auftreten: frühaufsteher, reinigungsmaschinen, lkw´s, die die supermärkte versorgen.

der kurze zauber ist vorbei. wir geben die stadt zurück in

untreue hände. wir machen uns auf den rückzug.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



münchen, 20.mai 2022

las vor einiger zeit einen artikel von michael krüger über das erscheinungsbild unserer großstädte. das sei, schrieb krüger, tagsüber von einer bestürzenden banalität, egal ob es sich dabei um die großen boulevards in paris, die schönen viertel in london, rom oder münchen handelt. der permanente ansturm der menschen: verkehr, konsum, tourismus etc. stehle den städten ihr gesicht, beraube sie ihrer eigenart. am ende sehen sie alle gleich aus. um eine stadt wirklich zu sehen, sie in ihrer eigenart und schönheit zu entdecken, müsse man sie entweder in der nacht oder in den frühen morgenstunden zu fuß erkunden. er sei oft, erzählt krüger, als er in rom an der villa massimo war, um mitternacht mit dem bus an die sadtgrenze gefahren und dann zu fuß nach hause gelaufen.

der gute michael krüger. le promeneur solitaire. dachte an ihn, als wir vor ein paar tagen zu einer nächtlichen exkursion aufbrachen. leider sind wir zwar früh, aber für eine entdeckung doch zu spät aufgebrochen und zudem den größten teil der strecke mit dem auto gefahren. nach einer kleinen tour bei der donnersberger brücke wurde es bereits hell.

dennoch haben wir da und wenig später am königsplatz gesehen, was es bedeutet, die stadt fast unmittelbar, in ihrem unverdeckten augenschein, unbelebt und  wie im dialog mit den straßen, plätzen und gebäuden zu erfahren. obwohl die bedingungen denkbar ungünstig waren: ein bleierner himmel, nieselregen, milchiges licht. es ist das gleiche phänomen wie bei den silent places: einmal menschenleer, gewinnen die orte ein anderes gesicht, vielleicht ihr wahres (?), auf jeden fall ihre aura zurück. und es könnte sein, dass die straßen, die fassaden, laternen oder andere dinge plötzlich zu sprechen anfangen. nicht nur, dass sie von ihrer geschichte erzählen, sie zeigen sich in ihrer formalen schönheit, geben raum für beziehungen.

ich erinnere mich nicht, ob michael krüger auch von aragons paysan de paris sprach. aber sicher hat er ihn mirgedacht, wenn er von seinen nächtlichen streifzügen durch paris erzählt.



augsburg, 23 april 2022

kleine foto-tour. weiter versuche mit doppelbelichtung.

exemplarische anekdote. im hochfeld einer dieser alten und inzwischen sehr seltenen roten kaugummiautomaten. ein zwei versuche, die roten kästen ansprechend zu inszenieren. dann fährt ein junge mit cooler sonnenbrille ins bild. vermutlich ist er der einzige besucher seit tagen. ich warte. ich kann mir kaum vorstellen, dass das, was hier angeboten wird, ihn wirklich interessiert; wahrscheinlich wird er gleich weiterfahren. ich warte. aber nein: er scheint wirklich jeden dieser kästen, also insgesamt 32, genau zu studieren. er scheint zu überlegen, zu zögern. es dauert ewig.  ich disponiere um: also dann kaugummiautomat mit jungem. später, bei der sichtung der bilder, sind die mit dem jungen viel besser als die ohne.

dann weiter richtung city.

graffitys, schriftzeichen, subtile codes: insgesamt wird es schon schwieriger, neue und interessante bilder zu finden. vieles wiederholt sich, einiges, das auf den ersten blick spannend aussieht, hat dann zu wenig potential, zu wenig spannung, vieles habe ich ähnlich schon besser gemacht.

dann aber doch wieder überraschende entdeckungen. so zum beispiel an einer fußgängerunterführung zum roten tor. hier scheinbar eine professionelle, sehr strenge gestaltung. tolle tableaus, wo die strenge geometrie, das klare graphische durch organische elemente oder schmierereien durchbrochen wird.

 



léchiagat/bretagne, 3.april 2022

erliege einmal mehr dem fatalen gedanken, ich müsste auch in der fotografie  immer zu neuen ufern aufbrechen, wiederholung als bankrott der kreativabteilung, wozu zum tausendsten mal abstrakte malbilder  oder graffitys oder wandbilder usw. 

ein gemisch aus rimbaud  (le grand dérèglement de tous les sens!!!), avantgarde-reminiszenzen, wachstumsphilosophie. immer weiter, immer besser, immer cooler.

das ist schon richtig, aber eben doch nur zum teil. neuland und die ausstellung haben mir etwas die perspektive verzerrt. ich dachte, eine etappe wäre jetzt abgschlossen und ich müsste ganz neu anfangen. adieu die schönen wandmalereien, graffitys, sensible codes, traumhafte mauerzeichen. aber nein. ich finde sie hier wieder, im finistère, völlig unerwartet, auf unverdächtigen plätzen: im hafen auf verteilerkästen, an den wänden von lagerhallen, auf verschlissenen toren, an denen ich einfach nicht vorbei komme. und ich denke, wie schön! auch zum 1000sten mal. warum sollte ich mir das entgehen lassen.

ich korrigiere also: wiederholung  UND neuland. sammler und entdecker. ein lachendes auge für das wieder-sehen von geliebten sujets und ein anderes für das neue.

wiedersehen mit der bretagne nach über 20 jahren. damals das einsame haus am meer am hang über der bucht von le vougot; jetzt das fischerhaus am rand des hafens von le guilvinec. das geschrei der möwen hier wie dort, die salzige, von trockenem tang durchdrungene luft, riesige granitbrocken im wasser und am strand, von der erosion modelliert und gestaltet zu riesiegen urzeitlichen vögeln, die weiten strände, die ständig wechselnden farben des meeres, ginster und lebensbäume hinter den dünen. hier: hafenatmosphäre in dem kleinen ort, das kommen und gehen der fischerboote, von diesel geschwängerte luft, die bunten farben der fischerboote, das geräusch der maste im wind.

 



miesbach 8.märz 2022

das unbehagen im logbuch, die crux des tagebuch-schreibers: wie viel raum der politik geben?

z.b. franz kafka, als er in sein tagebuch schreibt: heute morgen hat deutschland russland den krieg erklärt- am nachmittag schwimmschule.

also gut: vor gut 10 tagen hat vladimir putin die ukraine überfallen; so viele menschen ermordet- probleme mit der dopplbelichtung.

ich habe mir seit beginn dieses logbuchs vorgenommen, die politik und zeitgeschichte -so weit wie möglich- aus diesen seiten herauszuhalten.

ich bin kein freund des eskapismus und auch nicht des affen, der nichts hören oder sehen will- aber die bilderbucht liegt ein ganzes stück abseits des donners der panzer, der pest und der meinungsführer. und das logbuch soll der ort des nachdenkens über bilder, über probleme mit bildern und über meine gedanken und probleme mit bildern sein.

nach neuland versuche mit doppelbelichtung. neuland war anfang des jahres sehr viel versprechend; aber die suche nach neuen motiv-zonen ist sehr aufwändig.müsste eine methode finden, das gezielter anzugehen. in der zwischenzeit wenig neues.

die versuche mit doppelbeleuchtung teilweise ganz spannend.

aber es bleiben vorbehalte.

 

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miesbach, 31.jan.2022

 

ausstellung II (donner à voir)

 

besuch von qu., meinem ehemaligen schüler und malerfreund. besuch auch von ana, angelika und ernestine, meinen fotofreundinnen. es ist mir eine freude, dass sie gekommen sind, die ausstellung zu sehen, eine freude auch,  ihnen die einzelnen bilder zeigen zu können.

natürlich ist es schön, geschichten zu den bildern zu erzählen: anekdoten zu ihrer entstehung, hintergründe, bezüge zu andern bildern, andern künstlern. natürlich ist es auch für die besucher interessant, solche geschichten zu hören. auch wenn die bilder eigentlich für sich alleine sprechen, wenn alles, was dazu von mir zu sagen ist, in den bildern, in ihrer bilder- und formensprache selbst steckt und zu einem stück auch in dem kontext mit den anderen bildern, in der komposition der ausstellung.

eine führung, erst recht vom künstler selbst, ist dann allenfalls eine zugabe, eine art bonus-track.

oder vielleicht doch mehr?

ich frage mich, und ich glaube es in den gesprächen mit qu. , meinem malerfreund, und in den gesprächen mit meinen fotofreundinnen begriffen zu haben: die ausstellung selbst und auch die führung sind neben vielen anderen motiven nichts anderes als der entschiedene wille und die lust, meine bilder zu zeigen,  sie zum sehen zu bringen, oder mit den worten paul eluards: donner à voir.

vielleicht ist dieser impuls, dieses zum sehen geben wollen, einer der ältesten und ursprünglichsten der künstlerischen arbeit. eine erinnerung aus der kindheit: eines meiner ersten bilder, eine kleine malerei, ein selbstportrait nach einem foto, und wie ich es voller stolz in die küche trage, wo mein cousin mit seiner frau zu besuch ist; eine aktion, die mir das lob einbringt: ein künstler. der künstlerische wert dieser kleinen arbeit war mehr als fraglich, und auch wenn ich trotzdem einigermaßen stolz auf das bild war, so war doch klar, dass ich in erster linie mich zeigen wollte, diese andere und für mich so wichtige seite meiner person. später, und mit der entdeckung der poesie, haben sich die akzente verlagert, ist das, was ich gesehen hatte, was ich gelernt hatte zu sehen, zur haupttriebkraft meiner künstlerischen bemühungen geworden. in der lyrik, und genauso dann auch in der fotografie:

"wie schwer es war, das sehen zu lernen/wie schwer es ist zu sehen/und die lider einen spalt wach zu halten", heißt es in meinem gedicht "lehrzeit zu sehen" (1987). die welt sehen: baum, landschaft, gesellschaft, herz, schmerz, zustände, misssände, recht, unrecht, ... das alles zu sehen und dafür eine sprache zu finden, bilder zu finden. "der dichter macht sich sehend" heißt es bei rimbaud. und wenn er gesehen hat, will er es auch zeigen, aber nicht alleine zeigen oder sich zeigen, er will, was er gesehen hat, auch zum sehen bringen, er will, dass der leser den baum im regen so sieht, wie er ihn gesehen hat:  einen baum, der unendlich traurig ist und dessen äste deshalb tränen tragen (rainer kunze). oder um bei den bäumen zu bleiben:  "in den bäumen kann ich/ keine bäume mehr sehen/ die äste haben nicht die blätter,/ die sie in den wind halten" (ingeborg bachmann, entfremdung).

der dichter, sagt ingeborg bachmann in ihrer dankesrede für den preis der kriegsblinden:

"muß ihn [den schmerz], im Gegenteil, wahr­haben und noch einmal, damit wir sehen können, wahr­machen. Denn wir wollen alle sehend werden ... Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kom­men, den hellen, wehen, in dem der Schmerz fruchtbar wird: Mir sind die Augen aufge­gan­gen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenom­men haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zu­wege bringen: daß uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen."

das ist das eine.

etwas anderes ist, ob dem anderen, dem leser oder dem betrachter des kunstwerks dann auch tatsächlich die augen aufgehen.

ich bin fest davon überzeugt, dass das in erster linie vom kunstwerks selbst, von seiner formalen qualität abhängt. von seiner fähigkeit, den betrachter oder leser zu berühren, anzugehen- um ihm dann zu vermitteln, was es ihm zum sehen geben will.

aber ein glücksfall ist es auch, wenn man als künstler unmittelbar erleben kann, dass die eigene arbeit gesehen und im besten fall verstanden, also wirklich gesehen wird.

es war mir eine freude, euch meine schätze zu zeigen, sagte ich zu meinen fotofreundinnen nachher im wirtshaus. aber neben dem stolz des erzeugers war damit vor allem gemeint: ich habe mich gefreut, euch zeigen zu können, was ich in und mit diesen bildern gesehen habe: also die stille schönheit bestimmter räume und dinge (silent places) zum beispiel oder die wunderbaren entdeckungen in graffitys oder fassadenverkleidungen mit kleberesten (dialog mit i.bachmann).

und ich danke euch für euren besuch, für die zeit und die offenen augen. danke angelika, danke ernestine und danke ana.

 


ausburg, 6.januar 2022

 

warten auf die große omicron-welle. ob sie auch die bilderbucht-ausstellung überschwemmen wird???

jetzt, nachdem die ausstellung fertig ist, kommt verstärkt die frage, wie ich fotografisch weitermache. dabei habe ich nicht das gefühl, mich neu erfinden zu müssen.  die ausstellung jetzt war ja nicht der abschluss, das resumé einer arbeitsphase! allenfalls ein zwischenbericht.

aber ich möchte auch nicht das 2000. graffity machen wollen oder das 500. abstrakte urbane bild. obwohl ich weiter gerne graffitys fotografiere oder abstrakte urbane bilder. und obwohl man natürlich immer an nur einigen wenigen bildern weiterarbeitet.

 

silent places war eine gute spur im letzten jahr, die unbedingt weiter gehen soll. ich muss aber mehr ausschau halten in anderen städten, anderen regionen: saarland vielleicht, frankfurt oder köln.

 

vor einigen wochen auch ein paar neue fotos, die vielleicht einen neuen weg versprechen: bilder gerade neu erschlossener baugebiete, in denen bereits straßen und infrastruktur realisiert sind, aber noch keine gebäude. in denen sehr drastisch der übergang von der grünen wiese zu den rändern der stadt zu sehen ist. ich habe diese bilder programmatisch "neuland" genannt. auch weil sie bisher so in meiner bildersprache nicht vorgekommen sind.