heinz von heydenaber, usa basket (1994)


Eine mysteriöses Aufnahme, ein X-File! Beim ersten Blick findet das Auge keine Führungslinie, denn es gibt keine Mitte. Allerdings einen deutlichen Horizont, bei dem der Himmel gut zwei Drittel einnimmt. Die vertikalen Drittellinien sind von senkrechten Elementen besetzt, links nur ein kurzer, rechts ein fast das gesamte Bild durchziehender Akzent. Das führt dann das Auge über eine imaginäre Diagonale von links unten nach rechts oben. Oder sollte man besser sagen: Das könnte das Auge in diese Diagonale lenken? Wäre da nicht der besagte Horizont, der schnell die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

 

Unter einem grauen Himmel (der Schwarz-Weiß-Optik zu verdanken und eigentlich blau?), über den sich eine bedrohlich-dunkle, schmierige Wolkendecke schiebt, erkennen wir eine ikonische Silhouette, ins visuelle Gedächtnis gebrannt aus tausend Western oder einer Million Instagram-Shots. Der Boomer mag hier die Szenerie nach der Stagecoach mit John Wayne oder Navajos auf ihren Mustangs absuchen, der Millennial eher nach langhaarigen jungen Frauen (man gebe monument, valley und instagram in Googles Bildersuche ein). Nichts davon ist hier zu finden. Was die Aufmerksamkeit wieder auf den Vordergrund lenkt, denn der Mittelgrund bietet – nichts. Nur endlose Weite.

 

Aber genau auf den erwähnten Drittellinien sehen wir links im Profil einen Mann mit Base Cap und Jacke, es scheint also eher kühl zu sein. Die linke Hand, die gerade einen Basketball geworfen hat, ist in perfekter Wurfhaltung nach unten abgewinkelt. Der Blick des Mannes folgt dem Ball, den wir, einen starken nachmittäglichen Schatten werfend, kurz vor der rechten Linie am Scheitelpunkt des Wurfs knapp über dem Basketballkorb sehen, der an einem klassischen Basketballständer befestigt ist. Seine Rechte, an der eine Uhr und ein auffälliges Armbandträgt, schwebt, eben noch den Ball kontrollierend, ebenfalls in der Luft. Er selbst ist nur als Brustbild zu sehen. Insgesamt eine sehr unorthodoxe Bildkomposition und doch seltsam stimmig. Viel mehr ist da nicht! Rechts unten noch etwas nicht genau Identifizierbares, vielleicht die Reste einer Absperrung, die beim Augenwandern dann wieder in die Landschaft zurückführen.

 

Und schon beginnt das Gehirn unweigerlich eine Geschichte zu spinnen und Widersprüche und scheinbar Unvereinbares zu versöhnen. Wer ist dieser Mann mit dem nicht typisch männlichen Armband? Er scheint sehr gebräunt. Vielleicht ein Nachfahre der Western-„Indianer“? Leben hier noch welche?

Googeln! „Das Monument Valley [...] liegt innerhalb der Navajo-Nation-Reservation [und][...] wird von den Navajo verwaltet“. Die Hälfte der Bewohner lebt unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosenquote liegt bei 40 %.

 

Ist dieser junge Mann einer von ihnen, ein Arbeitsloser, der sich die Zeit mit Basketballspielen vertreibt? Oder wartet er auf ein paar Touristen, die in einem auf dem Bild nicht sichtbaren Laden Schmuck kaufen (Tourismus und Kunsthandwerk gehören zu den Haupteinnahmequellen). Auf jeden Fall ist er einer von den wenigen Hundert Menschen, die das Monument Valley heute bewohnen.

Und in welcher Beziehung stand der Fotografierende zu dieser Szene? Hat er einfach heimlich einen Schnappschuss riskiert, den typischen Touristen mimend, der die markanten Tafelberge in den Fokus nimmt? Oder gab es eine Art von Kommunikation mit dem „festgehaltenen“ Menschen? War dem Fotografen bewusst, dass er hier einen „decisive moment“ einfing, wie ihn Henri Cartier-Bresson nannte – ein Moment, den er eigentlich auf das Porträt bezog, der aber längst zu einer allgemeinen Formel der Fotografie geworden ist? Dafür spricht die Konvertierung des ursprünglich offensichtlich farbigen Fotos in Graustufen. Und das Foto erinnert sehr an Cartier-Bressons "Lac Sevan, Arménie, URSS, 1972" oder das berühmte "Valencia, 1933". Cartier-Bresson hilft vielleicht auch dabei, der Aufnahme des Berufsfotografen Heinz von Heydenaber näherzukommen:

 

“Die picture story schließt ein Zusammenwirken von Verstand, Auge und Herz ein. Ziel dieses Zusammenspiels ist es, den Inhalt eines Geschehens im Entstehen darzustellen und Eindrücke zu vermitteln. Manchmal kann ein einzelnes Ereignis so reich an sich und an seinen Facetten sein, dass es notwendig ist, sich ganz darum herum zu bewegen auf der Suche nach der Lösung der Probleme, die es aufwirft – denn die Welt ist in Bewegung, und du kannst nicht stehen bleiben gegenüber etwas, das sich bewegt.“ (Eigene Übersetzung nach: H. Cartier-Bresson. One decisive moment. Fondation Henri Cartier-Bresson 2024. Foreword. Ohne Seitenangabe.)

 

Und dieses Foto fordert genau das: die Zusammenarbeit von Hirn, Auge und Herz. Wir bewegen uns um das Foto “auf der Suche nach der Lösung der Probleme, die es aufwirft”, Probleme, die ein Zitat von John Wayne knapp zusammenfasst: “I don't feel we did wrong in taking this great country away from them. There were great numbers of people who needed new land, and the Indians were selfishly trying to keep it for themselves”. Wie entlarvend!

 

„Weites Land“ sehen wir auch hier. Und zwischen Hintergrund – den über Äonen entstandenen Tafelbergen, in der Ferne verschwommen wie die Vergangenheit –, dem weiten Land in der Mitte, das seit Jahrzehntausenden von Menschen bewohnt ist, und dem Vordergrund, dem Native American, knackig scharf und gegenwärtig, der das uramerikanische Basketball spielt, liegen Millionen von Jahren.

 

Mit dieser Weitwinkel-Aufnahme aus dem Jahr 1994 ist dem Fotografen eine Bildergeschichte gelungen, eine Zeitreise, eine Studie von Ruhe und Bewegung, eine Sozialskizze, ein Ausriss amerikanischer Geschichte, eine überraschende Komposition, eine Verbeugung vor der Fotografie-Geschichte und vieles mehr.

 

Für seine picture stories wünschen wir Heinz von Heydenaber mit den Worten von Cartier-Bresson weiterhin „a velvet hand, a hawk’s eye“.

 

mcm