paul hiller, bubble plane (2018)


Wie sieht uns das Kind auf dem Foto des Fotografen Paul Hiller an? Ein bisschen stolz, sogar etwas Herausforderndes meint man in dem Gesicht zu lesen, die Haltung signalisiert einen Besitzanspruch. Es lächelt nicht, sondern ist ganz Flugzeugkapitän, der uns beobachtet aus seinem grotesken bonbonfarbenen, knubbeligen Flieger auf einer weißen Wolke. Im Inneren erahnen wir die Mutter, deren Haare und Schulter noch zu erkennen sind, weitere Personen warten hinter der „Maschine“. Ansonsten sind keine Menschen zu sehen.


Im Hintergrund fangen gerade die Kirschbäume an zu blühen, links finden wir typische Fahrgeschäfte eines Vergnügungsparks – ein Riesenrädchen, die Schienenstränge einer harmlosen Achterbahn.


Am auffälligsten sind die Farben dieses Fotos: pastellig, sehr hell, ein wohl morgendlicher Frühlingshimmel, viel Hellrosa, Babyblau, Hellgelb. Der Künstler erreicht diese Atmosphäre durch die Aufnahme im quadratischen Format mit einer alten Hasselblad-Mittelformat-Kamera und einem ISO 400-Film, den er meist um 1/3 Blende überbelichtet. Die Abzüge digitalisiert er mit einem Scanner.


Mit seinen Fotos lässt Paul Hiller etwas in uns anklingen, was uns nicht sofort zugänglich ist, aber nicht in Ruhe lässt, wie ein Wort oder ein Name, die uns nicht einfallen wollen. Woher kommt das? Die Wissenschaft kennt den Begriff der „kindlichen Amnesie“ und meint damit die Tatsache, dass Erinnerungen an Ereignisse vor dem dritten oder vierten Lebensjahr meist verblassen oder schwer zugänglich sind. Hugo von Hofmannsthal hat dies 1894 in den "Terzinen über die Vergänglichkeit" so ausgedrückt:


Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen,
Und Träume schlagen so die Augen auf
Wie kleine Kinder unter Kirschenbäumen


Die Kirschenbäume in dem Park bleiben uns als Träume zugänglich, wenn der Bodensatz in den urtümlicheren Gehirnteilen aufgerührt wird – durch Gerüche, durch Geräusche, durch Bilder oder - wie hier - durch Farben. Für Paul Hiller scheinen die pastelligen Farben der Vergnügungsparks und Rummelplätze geradezu zu einer Obsession geworden zu sein. Seit fast 20 Jahren fotografiert er sie nun auf der ganzen Welt, dokumentiert sie im Netz und in einem Fotoband mit dem Titel „Happysad Souvenirs“.

 

Das Kunstwort „happysad“ soll die besondere Atmosphäre dieser Serien charakterisieren: einerseits das Vergnügen, das die Menschen an diesen

Orten finden, andererseits das Morbide, das sie ausstrahlen können, wenn es regnet, wenn sie in die Jahre kommen oder zu Zeiten mit wenig Besuchern. Und ich denke, ein großer Teil dieser Morbidität rührt aus der Ahnung unserer Vergänglichkeit, die uns bei diesen Bildern anfliegt. Aber auch aus der Kompromittierung unserer Identität: Waren wir als kleines Kind in so einem Vergnügungspark? Warum haben wir dann keinen Zugang zu diesen Erinnerungen, als wären das die Erinnerungen einer anderen Person? Aber woher sollten sonst unsere Ahnungen, unsere Gefühle, unsere Empfindungen stammen? Nochmal Hofmannsthal:


Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt

 

Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,
Herüberglitt aus einem kleinen Kind
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.


In Hillers Foto sind beide Aspekte vereint: Das Kind, das „happy“ ist, wie es Kinder selbst noch auf dem tristesten Supermarkt-Vorplatz sind, wenn sie dort ein pastellig-bubbliges Motorrad entdecken, auf dem sie für ein paar Cent eine Minute lang herumgeschaukelt werden, aber auch die „Sadness“, die aus der verlorenen Welt heraufsteigt.

 

Der Fotograf sagt in einem Interview: „Die Leute auf meinen Fotos sind Nebenstürme. Ich versuche, Porträts der Parks zu machen und die Stimmungen und Atmosphären einzufangen, die ich dort spüre“  . Doch auf diesem Foto wird beim Betrachter durch das Kind plötzlich ein selbstreferentieller Bezug verstärkt und Träume schlagen ihre Augen auf. Wie Paul Hiller sind wir plötzlich auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Durch ein Foto, nicht durch den Geschmack einer Madeleine. Aus einem Foto rekonstruieren wir Teile unserer Vergangenheit. Und vielleicht liegt darin unsere Hoffnung: „[...] wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen“ (Marcel Proust. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1). Das gilt auch für die Fotos von Paul Hiller.

 

mcm