peter spahn, im schneetreiben (2025)


rainer meisch, strandspaziergang (2024)

„In meinem Lied ein Reim/Käme mir fast vor wie Übermut“, schreibt Bert Brecht in seinem Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“. Muss mir deshalb ein „Lichtbild“ fast vorkommen wie Verrat angesichts der derzeitigen Dunkelheit in unserer Welt? Was bliebe uns dann noch, wenn wir verzichten auf Licht, Schönheit, Brüderlichkeit und kampfbereite Hoffnung!

 

So wird das eigene Schaffen zu einem Akt des Widerstands gegen die Kräfte, die zu Verzagen und düsterer Reaktion verlocken wollen. Und das Schauen der Werke anderer wird zu der Erkenntnis, dass wir nicht allein sind. Dazu bietet das Netz einen überreich gedeckten Tisch, der zum Schlemmen und – geben wir es zu - mit unweigerlicher Sättigungsmüdigkeit schließlich zu apathischem Yoga Scrolling verführt. Doch plötzlich greift ein Bild nach dir. Sei es, dass es dich ästhetisch überwältigt, dass eine Erinnerung dich berührt, dass etwas dein Interesse erweckt – ein Detail, eine Komposition, eine Stimmung...

 

So ging es mir, als ich auf „im schneetreiben“ von Peter Spahn stieß – auf der unteren Drittellinie Erwachsene, auch Paare, ein Hund, Kinder, teils auf den Fotografen zugehend, teils in entgegengesetzte Richtung schlendernd, und eine querende Figur in kurioser Haltung im rechten Bildteil, die sich auf Nachforschungen hin als Radfahrer erwies, nur ist das Rad in der Kontrastlosigkeit der High-Key-Fotografie und im Schneetreiben nicht mehr zu sehen. Überhaupt wird die Hälfte der Personen zum Hintergrund hin immer undeutlicher, fast bis zum Verschwinden. Die schwachen Kontraste werden zusätzlich aufgelöst durch Schneetreiben, das das Bild fast rastert und eine pointilistische Wirkung erzeugt Am unteren Bildrand ein dunkler Strich, eventuell ein Stock, im oberen Drittel ein schwarzer Punkt, der sich als fliegender Vogel erahnen lässt - was für eine minimalistische Kompositions-Idee, denn entfernt man diese beiden Objekte in der Bildbearbeitung, verliert das Motiv seinen Halt im Diffusen des Wintertages.

 

Das alles ist schon interessant genug, doch der Glanzpunkt sind dann die Primärfarbtupfer, das Blau und Rot unter den vielen winterlich schwarz oder braun Gekleideten, Farben, die mich sofort an die „Footprints“ meines Lieblingsfotografen Saul Leiter erinnert haben. Footprints der Lebensfreude und Sinnlichkeit, der gereckte Mittelfinger gegenüber Winterblues, apokalyptischen Reitern und Mordor. Das Gedicht „Rote Dächer“ von Arno Holz kommt mir in den Sinn:

 

Und die Farben!

Jetzt! Wie der Wind drüber weht!

Die wunder, wunderschönen Farben!

 

Ich schließe die Augen. Ich sehe sie noch immer.

 

 

Fast gleichzeitig entdeckte ich dann „Strandspaziergang II“ von Rainer Meisch, das mich sofort ansprang und an „im schneetreiben“ erinnert. Auch das eine High-Key-Fotografie, aber bis auf Grauwerte entsättigt. Fünf Paare, angeordnet in einem stehenden Oval, fast wie arrangiert verteilt, zwei Hand in Hand, drei in gewisser Distanz. Am oberen Rand ein paar querende Passanten, schon sehr ins Konturlose übergehend. Eigentlich ein Foto, das gegen alle Kompositionsregeln verstößt, aber es gibt doch eine gewisse Annäherung an die Fibonacci-Spirale, was unser Harmoniebedürfnis anscheinend zufriedenstellt.

 

Das Foto könnte demnach eine geruhsame Szene im sommerlichen Watt sein, die Personen in Badekleidung, einige tragen typische Strandgegenstände bei sich. Nach vorne spiegeln sich ihre Körper offensichtlich in flachem Wasser, die Länge der Spiegelbilder lässt auf eine Zeit am Vormittag oder Nachmittag schließen. Es sieht aus, als stünden sie auf ihren Antipoden. Ihre Schatten, das Nichtlicht, sind antimaterielle Signale aus der Spiegelwelt, in der Humpty Dumpty uns vielleicht die Semantik dieses Fotos erklären könnte.

 

 Eine Sommeridylle, wäre da nicht dieses weiße Loch, dieser immense Negativraum, verstärkt durch eine gottähnliche Vogelperspektive. Raum und Bewegung werden dadurch zum Thema und mit Raum und Bewegung auch die Beziehung zwischen den Bildelementen: Was bedeutet der Raum zwischen den Paaren, was der Raum zwischen den Partnern? Weshalb gehen die Paare alle in eine Richtung in der Bildvertikalen, warum nicht die Einzelpersonen in der oberen Horizontalen? Fast wie Wölfe, die sich betont unauffällig der friedlich grasenden Herde nähern. Und was ist außerhalb des sichtbaren Raums? Ein endloses Nichts? Oder gibt es ein Ziel?

 

Am Ende muss ich mir die Frage stellen, weshalb mir bei „Strandspaziergang II“ sogleich „im schneetreiben“ ins Gedächtnis kam. Natürlich ist da der gleiche Tonwert und es sind hauptsächlich Menschen in unterschiedlichen Konstellationen zu sehen. Bei beiden ist der deutliche Eingriff durch die Bildbearbeitung zu erkennen. Aber augenfälliger sind doch die riesigen Unterschiede zwischen den beiden meisterlichen Fotografien: die Farbigkeit, die Perspektive, die Komposition, die Atmosphäre der Jahreszeiten, die Örtlichkeiten, die Gedanken, die sie auslösen, und die Stimmungen.

 

 Was ist es dann, was die beiden Bildnisse verbindet? Zum einen sind es sicher die Menschen, die an bestimmten Tagen oder an bestimmten Orten denselben Vergnügungen nachgehen und erkennen lassen, dass es bei allem Trennenden doch viel Gleichheit, viel égalité gibt. Am Ende ist es aber das Licht, oder? Die wagemutig großen weißen Flächen, die atmen lassen, die Raum beanspruchen, die das Dunkle vertreiben, die Hoffnung geben und die unsere Erinnerungen festigen sollen gegen Besorgnis und Entmutigung. Die im Foto manifest gewordene Vergangenheit schenkt uns Lichtblicke. „Die „hellen Tage behalte ich, die dunklen gebe ich dem Schicksal zurück“ (Zsusa Banks. Die hellen Tage.).

 

 

MCM